Am Anfang
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Kapitalismus und Kommunismus sind patriarchal. Der Feminismus reicht weiter und tiefer als beide, wenn es um Fragen sozialer Veränderung geht. Ich verstehe den Feminismus als eine kollektive Denkbewegung, ein Netzwerk von Ideen und Handlungen, die auf den Werten von Frauen aus aller Welt beruhen; ein Netzwerk, das immer tiefer in unser aller Bewusstsein eindringt. Das Patriarchat hat Frauen und Männer seit Jahrhunderten infiltriert. Es hat unseren Blick auf die Welt verzerrt und unsere sozioökonomischen Praktiken zerstört. Das Ziel des Feminismus ist es, alle – Frauen, Kinder und Männer – vom Patriarchat zu befreien, ohne dabei jedoch die das Patriarchat aufrechterhaltenden Menschen zu bedrohen, oder den Planeten, auf dem sie leben.
Der Versuch, außerhalb des Patriarchats zu denken, bringt Frauen in eine Lage, die jener der Vorsokratiker ähnelt, die am Beginn der abendländischen patriarchalen Kultur dachten. Wenn wir heute die Gedankenstrukturen zurückweisen, welche die europäische Kultur geprägt und geplagt haben, betreten wir weiten, unerforschten Raum. Wir müssen unsere Unschuld wiederfinden: die Herzen, die keinen Krieg kennen, und die uns – trotz aller Schwierigkeiten – immer dazu angehalten haben, uns um Kinder wie um Alte zu sorgen (anstatt sie zu misshandeln). Wir müssen die patriarchale Sicht der Dinge zurückweisen und neu beginnen. Wir müssen unbefangen mit unseren eigenen Augen sehen lernen.
Wenn wir nicht mehr an das glauben, was mann uns glauben machen will, wird offenbar, dass die Wahrheit durchaus erkennbar ist. Das Problem besteht darin, dass uns die Fähigkeit, sie zu erkennen, im Laufe der langen und komplexen Menschheits- und Kulturgeschichte abhanden gekommen ist. Die wiedererweckte, kollektiv formulierte Perspektive der Frauen kann uns jedoch zeigen, dass die menschliche Spezies kein Fehler von Mutter Natur war. Wenn wir uns dieser Perspektive verpflichten, dann können Frauen – und Männer, die ihnen folgen – der Zerstörung der Menschen und des Planeten Einhalt gebieten.
Um patriarchales Denken zurückzuweisen, bedarf es einer von ihm unterschiedenen Form des Denkens – einer Alternative.
Akademische Disziplinen haben die Tendenz, sich in enorme Apparate auszuwachsen, zu denen Tausende internationaler ForscherInnen und DenkerInnen beitragen. Trotz vieler Fortschritte bestärken diese Apparate eine Weltsicht und eine Wirklichkeit, die von Unterdrückung und Herrschaft gekennzeichnet sind. Ich glaube, dass es einen relativ einfachen, aber fatalen Irrglauben gibt, der dem Denken der so genannten Ersten Welt zugrunde liegt. Dieser Irrglaube befindet sich an der Quelle dieses Denkens. Akademische Forschung beginnt meist irgendwo entlang des Flusses, an einem Punkt, an dem der Irrglaube bereits zur Normalität geworden ist und wir ihn nicht mehr als solchen wahrzunehmen vermögen. Vielmehr scheint er an diesem Punkt bereits Wirklichkeit zu sein. Nur der unbefangene Blick erlaubt uns, uns der Quelle selbst zuzuwenden, und nur dort können wir hoffen, eine Alternative zu finden.
Die Umstände meines Lebens haben es mir erlaubt, meinen eigenen unbefangenen Blick auf ein Forschungsfeld zu richten, das im 20. Jahrhundert von besonderer Wichtigkeit war: das Studium der Sprache und anderer Zeichensysteme. Was auch immer ihre anderen Leistungen gewesen sein mögen, die Forschungsfelder der Linguistik, Semiotik und Sprachphilosophie haben im Wesentlichen die grundlegende Wichtigkeit der Sprache für die menschliche Existenz herausgearbeitet. In diesem Sinne erscheinen Linguistik und Semiotik als geeignete Ausgangspunkte einer Analyse patriarchalen Denkens.
Sprachliche Kommunikation wird heutzutage von AkademikerInnen meist als eine autonome, bestimmten Regeln folgende Aktivität gesehen. Manche LinguistInnen meinen, dass die Tatsache, dass sich Sprache in allen menschlichen Gemeinschaften findet, ein Beweis dafür ist, dass sie zum größten Teil nicht kulturell, sondern genetisch vermittelt wird. Syntaktische Regeln, und manchmal selbst Teile des Vokabulars, scheinen zu einer von Generation zu Generation weitergereichten Hardware zu gehören. Demzufolge wäre unser linguistisches Verhalten genetisch determiniert („Biologie des Schicksals“). Die Sprache wäre damit wie das Geschlecht, dessen Charakteristika Jahrhunderte lang im Rahmen eines kulturellen Diskurses als „biologisch“ vermittelt und damit als absolut unveränderbar galten – im Besonderen, was das genetisch angeblich „unterlegene“ Geschlecht anlangt.
Wenn wir Sprache zu einem Geschenk unserer DNA erklären, anstatt sie als kulturelles Erbe zu verstehen, rücken wir sie in einen Raum, in dem menschliche Intervention unmöglich ist. Wenn wir Sprache hingegen als ein soziales Gut betrachten, das von flexiblen, jungen, sich entwickelnden Geschöpfen aus Körper und Geist erlernt werden muss, wird sich auch unser Verständnis menschlicher Existenz entsprechend ändern. Was kollektiv gelernt werden muss, kann auch kollektiv hinterfragt und verändert werden.
So seltsam uns die Vorstellungen von einer genetisch vermittelten Sprache auch erscheinen mögen, sie fungieren als wissenschaftliches Paradigma und üben starken Einfluss auf zahlreiche Forschungsfelder aus. Sie sind Teil eines wissenschaftlichen Apparates, in dem Ideen als adäquat und stimmig anerkannt werden, wenn sie mit bestimmten vorausgesetzten Vorstellungen zusammenpassen, während Ideen, die das nicht tun, diskreditiert werden. Der so genannte „freie Markt“ der Ideen entspricht dem „freien Markt“ der Güter darin, dass er ausschließlich ein paar (genetisch „überlegenen“?) Wenigen zugute kommt, während er sich mit der Lüge legitimiert, allen zu dienen.
Wann immer wir uns mit Fragen unserer Existenz auseinandersetzen, sollten wir unseren eigenen Diskurs zumindest zwei Fragen unterwerfen: „Was heißt das für mich materiell?“, und: „Was heißt das für mich psychologisch?“ Die Ideologiekritik hat gezeigt, dass Denksysteme oft ausschließlich im Dienste bestimmter Herrschaftsformen stehen. Jeder akademischen Disziplin muss misstraut werden. Die Ideensysteme, die uns als Wahrheit gelehrt werden, stützen die politischen und ökonomischen Systeme, in die sie eingebunden sind.
Glücklicherweise habe ich mich stets außerhalb der akademischen Welt bewegt und war materiell nie von ihr abhängig. Damit konnte ich unbefangen bleiben. Wonach ich mich leidenschaftlich sehne, ist soziale Veränderung. Als Mutter hoffe ich auf eine körperlich wie seelisch gesunde Zukunft für meine Kinder und die Kinder aller Mütter; auf eine Zukunft frei von der kollektiven Psychose des Patriarchats. Meine persönliche Genugtuung wäre es, zu einer solchen Zukunft beitragen zu können.
Ich hoffe, dass es mir gelingen wird zu zeigen, dass es eine feministische Sprachtheorie gibt, und dass ein großer Teil unseres Denkens neu gestaltet werden kann als etwas, das einer Praxis der Frauen entspricht. Es geht darum aufzuzeigen, dass es – versteckt hinter den Abstraktionen von Linguistik und Semiotik – ein anderes Paradigma/Prinzip gibt. Manche Feministinnen, die (verständlicherweise) an der männlichen Dominanz der Sprache verzweifelt sind, haben eine poetische Sprache und Schreibweise als Alternative gewählt. Manche haben sogar beschlossen zu schweigen, um sich dem patriarchalen Diskurs zu entziehen. Ich denke aber, dass wir sowohl Sprache als auch soziale Praxis von der patriarchalen Kontrolle befreien können, sobald wir das verborgene Prinzip finden und in unsere Arme schließen.
Trotz endloser Diskussionen haben PhilosophInnen auf die Frage: „Wie beziehen sich Wörter zur Welt?“ nie eine Antwort gefunden. Die Frage ist die letzte in einer Reihe von Fragen, die im Gewirr patriarchaler Philosophie gefangen sind – ein guter Ort, um mit einer unbefangenen Analyse zu beginnen. Alle Antworten, die je auf diese Frage gegeben wurden, waren geprägt von den patriarchalen Werten der Philosophen, die über sie nachdachten. Ihre Anschauungen wurden im Zuge von Denkprozessen geformt, die das Denken der Frauen ablehnten. Diese Prozesse dienten über Jahrhunderte hinweg dazu, patriarchale Hierarchien durchzusetzen und zu behaupten Es ist nicht meine Absicht, eine Sprachtheorie (zeitgenössisch oder vergangen) nach der anderen für obsolet zu erklären. Mein Buch würde auf diese Weise zu einem endlosen akademischen Unternehmen werden, das sich auf der Ebene jener abspielen würde, gegen die ich mich wenden will. Was ich stattdessen tun möchte, ist, eine alternative Sprachtheorie zu entwerfen.
Es gibt einige Fragen, die zunächst beantwortet werden müssen: Auf welche Weise bedeuten Wörter, Sätze oder Diskurse etwas? Wie beziehen sie sich aufeinander und zur Welt? Was ist die Bedeutung der Sprache für das Wesen des Menschen als Individuum und als Spezies? Warum ist es wichtig für uns, das zu wissen?
Es gilt hier vor allem eine Gefahr zu vermeiden: Wenn wir diese Fragen in der Terminologie abstrakter Systeme beantworten, assoziieren wir unsere Menschlichkeit mit abstrakter Denkfähigkeit, da wir davon ausgehen, dass der Sprache eine bedeutende Rolle in unserem Menschwerdungsprozess zukommt. Die Konsequenz wäre, dass diejenigen, die sich in abstraktem Denken besonders hervorzutun wissen, als „menschlicher“ gelten würden als andere.
In diesem Sinne schiene die „Überlegenheit“ der Männer gerechtfertigt aufgrund ihrer angeblich höheren Abstraktionsfähigkeit. Männer haben seit je her den Bereich der Vernunft für sich in Anspruch genommen, während Frauen jener des Gefühls zugeschrieben wurde. Sprachtheorien stützen Geschlechtstheorien – oder zumindest populäre Geschlechtskonzeptionen.
Das Problem erhält eine zusätzliche Dimension, wenn wir bedenken, dass das Verstehen von Syntax als einer Regelsammlung dem Menschen an sich ein Konzept der Reglementierung unterstellt. Auf diese Weise werden etwa unsere Rechtssysteme legitimiert, die als ebensolche Regelsysteme plötzlich natürlich erscheinen. Was in der akademischen Welt der Sprachtheorien passiert, kann weitreichende Konsequenzen für uns alle haben. Es verhält sich nicht anders als mit den akademischen Wirtschaftstheorien, die wesentlichen Einfluss darauf nehmen, wie Waren produziert und verteilt werden. Und selbst dort, wo es nicht zu unmittelbar wahrnehmbaren Konsequenzen kommt, beeinflussen die diesen Theorien zugrunde liegenden Voraussetzungen unser individuelles wie kollektives Verhalten in vielen Lebensbereichen. Sie ermöglichen und stützen bestimmte Formen sozialen Verhaltens und politischer Kontrolle in der gleichen Weise, in der etwa die Existenz des militärisch-industriellen Komplexes die US-Außenpolitik ermöglicht und stützt. Das Ändern dieser grundlegenden Voraussetzungen würde demnach hohe Wellen schlagen.
Die Co-Creation des Patriarchats
Es ist innerhalb der New-Age-Bewegung in den USA zum Gemeinplatz geworden, von der Co-Creation der Realität zu sprechen. Diesem Konzept zufolge können wir mittels unserer Ideen Wirklichkeit schaffen, indem wir bestimmte Dinge als wirklich gelten lassen und andere nicht. Ich hoffe, zeigen zu können, wie wir in diesem Sinne kollektiv eine patriarchale Wirklichkeit entstehen lassen, die eine biopathische (lebensfeindliche) ist – und ich werde dafür plädieren, diese Wirklichkeit zu überwinden. Unsere Werte – und die sich selbst legitimierenden Interpretationen der Welt, die wir auf ihrer Basis vornehmen – schaffen eine zerstörerische Illusion, die uns dazu veranlasst, auf zerstörerische Weise zu handeln und unsere Gesellschaft auf zerstörerische Weise zu organisieren. Doch ist dies nur eine Weise, auf die wir Realität schaffen können. Denn sobald wir unsere Rolle in diesem Schaffensprozess begreifen, verstehen wir auch, dass wir die patriarchale Wirklichkeit ändern und an ihrer Stelle eine andere schaffen können. Als erstes müssen wir dabei den Mut aufbringen, die grundlegenden Voraussetzungen zu verändern, die als Sicherheitsvorrichtungen dienen, um das System vor tief greifenden Veränderungen zu schützen.
Obwohl sich männliche Vorherrschaft in vielen (vielleicht fast allen) Kulturen finden lässt, möchte ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf die Herrschaft des weißen Mannes richten. Ich denke, dass die Herrschaftsform des weißen Mannes viele verschiedene Herrschafts- und Unterwerfungsweisen einschließt, die sich historisch miteinander verknüpft haben. Diese Herrschaftsform wäre demnach die umfassendste, die wir kennen. Ich meine damit nicht, dass jeder weiße Mann Herrschaft ausübt, oder dass Herrschaft nur von weißen Männern ausgeübt werden kann. Was ich meine, ist, dass sich Geschlechts-, Rassen- und Klassenideologien in einer Weise verbunden haben, die es weißen Männern erlaubt, in verschiedensten Lebensbereichen Herrschaft auszuüben. So entsteht eine Herrschaftsform, die sich und die Werte, auf denen sie aufbaut, selbst legitimiert.
In der Geschichte Europas sind der Aufstieg von Kapitalismus und Technologie, die Hexenverfolgung, die Eroberung der Amerikas und der Genozid ihrer indigenen Bevölkerung, die Versklavung der AfrikanerInnen oder der Holocaust alle extreme Momente einer Kultur, in der besagte Geschlechts-, Rassen- und Klassenideologien in einem gigantischen Apparat zusammenwirken, um einigen Wenigen zahlreiche Privilegien zuzuschanzen – und anderen gar keine. Leider setzt dieser Apparat oft den Standard für andere Kulturen und legitimiert in diesen ähnliches Verhalten. Überall auf der Welt wandeln Diktatoren in den Fußstapfen ihrer weißen Brüder und begehen Gräueltaten.
Weiße Männer sind nach wie vor die wichtigsten Stützen des Patriarchats. Anhand von Mechanismen wie jenen des „freien Marktes“ dominieren sie weiterhin die globale Ökonomie. Es liegt deshalb in der Verantwortung ihrer FürsorgerInnen – also im Besonderen weißer Frauen – sich gegen das Patriarchat zu wehren und es in seinem Inneren zu sabotieren. Dies muss in gemeinsamer Aktion mit ihren Verbündeten geschehen: solidarischen nicht-weißen Frauen und Männern und solidarischen weißen Männern. Wir müssen alle aufhören, biopathisches Verhalten und biopathische Systeme zu honorieren. Frauen wie Männer müssen aufhören, das Patriarchat zu stützen.
Der Kapitalismus hat Vorteile für viele Frauen gebracht, vor allem weiße Frauen, insofern, als dass er ihnen erlaubt hat, strukturelle Positionen einzunehmen, die zuvor ausschließlich Männern vorbehalten waren. Teil der Lohnarbeiterschaft zu sein oder für Autoritätspositionen ausgebildet zu werden, hat Frauen erlaubt, eine Stimme zu erwerben, sich Gehör zu verschaffen und Probleme zu benennen – was enorm schwierig ist für Frauen, deren Existenzmöglichkeiten auf traditionelle, unter der Autorität von Männern stehende Familienrollen reduziert bleiben.
Viele Frauen nutzen ihre Freiheit, um sich gegen das System zu wenden, das sie „befreit“ hat; sie wenden sich gegen die Mängel dieses Systems, die schwer auf ihnen lasten: in Form niederer Löhne, fehlender Kinderbetreuung, oder der sich fortsetzenden Privilegiertheit der Männer. Sie verurteilen das System auch für die Ausbeutung ihrer Schwestern und deren Kindern in der so genannten Dritten Welt, für die Verschwendung von Ressourcen durch Waffenhandel und Krieg, und für die umfassende ökologische Zerstörung, für die es verantwortlich ist.
Ich denke, dass sich alle Frauen im Kapitalismus in einer Position befinden, von der aus sie durch dessen vermeintliche Vorteile hindurch sehen können. Der Grund ist, dass von uns – trotz aller Ermutigungen, die ökonomische Leiter hinaufzuklettern – nach wie vor erwartet wird, die Verantwortung der Kinderversorgung zu übernehmen. Die Widersprüche zwischen den Werten, die diese beiden Anforderungen zum Ausdruck bringen, lenken unsere Aufmerksamkeit auf die tief schürfenden Widersprüche des Systems selbst.
Therapie- und Medikationsformen haben meist die Absicht, uns zu einer Anpassung zu bewegen, indem sie uns erklären, wir selbst trügen die Verantwortung für unser Leiden. Es gibt allerdings viele Feministinnen, die sich gegen diese individuelle Pathologisierung wehren und sich „nach außen“ wenden, gegen das biopathische System. Wir wenden dabei aber nicht die gewalttätigen Methoden des Systems an, sondern suchen nach anderen Wegen, um es von innen heraus zu verändern.
Ich glaube, dass uns bisher deshalb kein Erfolg beschieden war, weil wir nicht realisieren, dass wir eine gemeinsame Perspektive haben, und dass die Probleme, denen wir uns gegenübersehen, systematische sind. Indem wir die Verbindungen zwischen verschiedenen Aspekten des Patriarchats aufzeigen und indem wir unsere gemeinsamen alternativen Werte entdecken und behaupten (es gibt sie ja bereits – wir müssen sie nur von ihren Hüllen befreien), können wir Frauen beginnen, das Patriarchat auseinander zu nehmen, die Wirklichkeit neu zu erschaffen, und allen den Weg vom Rande des Abgrunds zurück zu einer friedlichen Existenz zu zeigen.
Das Schenkprinzip
Es gibt ein grundlegendes Prinzip in unserem Leben, das nicht wahrgenommen und erkannt wird. Gleichzeitig findet es sich in allen Lebensbereichen. Es mag in der Zeit der Raumfahrt, der Computerisierung und der Gentechnologie seltsam erscheinen, dass etwas von solcher Wichtigkeit ignoriert bleibt, doch wir mögen uns an das Bild des „Elefanten im Wohnzimmer“ erinnern, von dem bei den Anonymen Alkoholikern gesprochen wird. Menschen, die Alkoholprobleme verleugnen wollen, sprechen einfach nicht von ihnen. Um die Dinge so zu lassen, wie sie sind, richten sie ihre Aufmerksamkeit auf anderes.
Ich glaube, dass das oben genannte Prinzip als entscheidender Aspekt unseres Lebens verleugnet und ignoriert wird. Dieser Aspekt steht – im Gegensatz zum Alkoholismus – für eine gesunde, natürliche Seinsweise; eine Seinsweise, von der wir uns abgewendet haben, um den patriarchalen Status quo als falsche Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Ich nenne diesen verborgenen Aspekt unseres Lebens das Schenkprinzip. Es handelt sich um eine Weise, Wirklichkeit zu schaffen und zu interpretieren, die der Mütterlichkeit entspringt; es ist ein Weise, die auf der Erfahrung von Frauen beruht – zumindest solange es die Frauen sind, die den größten Teil der Mütterlichkeit erfüllen.
Das Schenkprinzip betont die Wichtigkeit, zu schenken, um Bedürfnisse zu befriedigen. Es ist bedürfnisorientiert, nicht profitorientiert. Ein freies Beschenken der Bedürfnisse – was in der Mütterlichkeit Pflege oder Fürsorge genannt wird – wird in unserer Gesellschaft oft übersehen, nicht registriert oder als irrelevant abgetan, weil es auf Qualität anstelle von Quantität beruht. Was das Beschenken der Bedürfnisse jedoch schafft, sind starke Bindungen zwischen denen, die schenken, und denen, die beschenkt werden. Die Bedürfnisse anderer zu erkennen, und zu versuchen, sie zu befriedigen, versichert den Schenkenden die Existenz der anderen, während den Beschenkten in ihrer Erfahrung, etwas zu erhalten, das ein Bedürfnis befriedigt, dasselbe widerfährt.
Bedürfnisse ändern sich (auch durch die Weisen, auf die sie befriedigt werden), Vorlieben entwickeln sich, neue Bedürfnisse entstehen. Wenn Kinder älter werden, bilden sich z.B. Bedürfnisse nach Unabhängigkeit. Mütter können auch diese befriedigen – indem sie das Befriedigen anderer unterlassen.
Das Gegenteil des Schenkens ist der Tausch. Tauschen ist Geben-um-zu-Erhalten. Hier sind Kalkül und Berechnung notwendig, und was gegeben wird, muss mit dem, was dafür erhalten wird, verglichen werden.
Der Tausch beinhaltet ein logisches Moment, das auf das eigene Ego und nicht auf andere bezogen ist. Die Gebenden des Tauschs nützen die Befriedigung der Bedürfnisse anderer nur als Mittel, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Ironischerweise beruht das, was wir heute „Ökonomie“ nennen (altgriech. oikonomia; aus oikos = das Haus, und nomia, von nomos = das Gesetz), auf dem Tausch, während das Schenken auf das eigene Heim reduziert bleibt. Im Kapitalismus regiert das Tauschprinzip uneingeschränkt als Eckpfeiler patriarchaler Realität.
Selbst unter jenen, die dem Kapitalismus kritisch gegenüberstehen, gibt es viele, die nur auf die Abschaffung des Geldes zielen. Sie wünschen sich eine barter economy (eine nicht-monetäre direkte Tauschökonomie), die immer noch dem Tauschprinzip verhaftet bleibt. Ich glaube, dass diese KapitalismuskritikerInnen die Trennlinie zwischen den Systemen an falscher Stelle ziehen: da sie das Geld und nicht den Tausch zu dem erklären, worüber sich das System definiert, können sie die Alternative, die das Schenken darstellt, nicht erkennen.
Legitimiert wird der Status quo und die Tauschökonomie anhand einer „menschlichen Natur“, die als egoistisch und konkurrenzorientiert definiert wird – Eigenschaften, die nur im Kapitalismus verlangt und gestärkt werden. Mütterlichkeit verlangt und stärkt das Auf-Andere-Ausgerichtet-Sein, Güte und Kreativität. Obwohl diese Eigenschaften notwendig sind, um Kindern die Welt zu eröffnen, wird es ihnen im Kapitalismus schwierig gemacht, sich zu entfalten – bis zu dem Punkt, wo wir für ihre Entfaltung persönliche Opfer bringen müssen. Der Grund für diese Schwierigkeiten ist, dass besagte Eigenschaften den meisten in der Tauschökonomie abhanden gekommen sind. Weder das Auf-Andere-Ausgerichtet-Sein, noch Güte, noch Kreativität werden im Rahmen des herrschenden Systems als Teil der menschlichen Natur betrachtet und bleiben somit aus dem Reich der Wirklichkeit verbannt.
Ich glaube, dass das Schenkprinzip überall in unserem Leben gegenwärtig ist, auch wenn wir uns daran gewöhnt haben, es nicht wahrzunehmen und nur dem Tauschprinzip mit seiner Verpflichtung zum Kalkül Rechnung zu tragen. Aber selbst eine Frage wie: „Wie geht es Dir?“ bedeutet letztlich nichts anderes als: „Was sind Deine Bedürfnisse?“ Ko-muni-kation bedeutet, sich gegenseitig zu beschenken (lat. munus = das Geschenk). Es ist dies die Weise, auf die wir Gemeinschaft als Ko-mun-alität schaffen.
Indem sie die Bedürfnisse der von ihnen abhängigen Kinder befriedigen, formen Mütter in einem ganz konkreten Sinn die Körper der Menschen, welche die Gemeinschaft ausmachen und zusammen in ihr leben. Es sind auch die Mütter, die sich um die gemeinschaftlichen Einrichtungen und Versammlungsorte kümmern. Wir kommunizieren miteinander durch das Schenken von Gaben, durch Kommunikation. Jedes Geschenk trägt etwas von den Gedanken und Werten der Schenkenden in sich und versichert den Beschenkten ihren persönlichen Wert – ein Moment, der dem Schenken von bedürfnisbefriedigenden Gütern und Diensten zwangsläufig innewohnt.
Der Tausch
Der Tausch ist selbstbezogen. Er erfordert ein Denken in Äquivalenzen. Der Wert, der anderen im Akt des Schenkens hätte versichert werden können, verliert sich im Tausch in der Erwartung einer reziproken Bedürfnisbefriedigung. Hier ist die Befriedigung der Bedürfnisse anderer nur ein Mittel zur Befriedigung der eigenen. Folgen alle diesem Prinzip, verändert sich unsere Kommunikation und wir lassen das Entstehen einer Gesellschaft zu, in der isolierte und autonome Egos voneinander getrennt existieren. Eine solche Existenzweise hat mit wirklicher Kommunalität nichts zu tun.
In ihrer Isolation beginnen die Egos, ihre Bedürfnisse nach Fürsorge und Verbundenheit künstlich zu befriedigen. Sie wenden sich Herrschaftsformen zu, um sich selbst jenes Gemeinschaftssinns und jener Identität zu versichern, die ihnen fehlen. Sie zwingen dabei andere, für sie zu sorgen, und wenden alle erdenklichen Methoden an – von persönlicher Gewalt bis zur Manipulation abstrakter Systeme – um diese Versorgung bzw. die Befriedigung ihrer Bedürfnisse sicherzustellen, da sie nicht länger imstande sind, diese Befriedigung im Rahmen kollektiv-partizipatorischer Schenkprozesse zu erfahren.
Wir müssen unsere Gesellschaft als eine betrachten, die beinahe jeder freien Geschenke und der Verbindungen, die diese schaffen, beraubt ist. Unser Mitgefühl ist blockiert, und es sieht fast so aus, als könnten wir nur überleben, wenn wir die Prinzipien des Schenkens und Beschenkt-Werdens ignorieren. Aber das Nicht-Schenken tötet jene, die schenken könnten, genauso wie das Nicht-Beschenkt-Werden jene tötet, deren materielle Bedürfnisse unbefriedigt bleiben. Um diese absurde Situation aufrechtzuerhalten, werden Gesetze erlassen und ein Polizei- und Militärapparat wird bezahlt, um diese zu schützen.
Unsummen werden für die Aufrechterhaltung des Rechtssystems, der Regierung, der Polizei und des Militärs ausgegeben, und es wird eine Gefühlsarmut geschaffen, die das Schenken praktisch verunmöglicht. Die Konsequenz ist, dass der Tausch zum notwendigen Überlebensmechanismus wird. Abstrakte Rechtssysteme und hierarchische Organisationen wie Regierung und Militär haben die Aufgabe, der Mehrheit die ihrer Bedürfnisbefriedigung dienenden Geschenke vorzuenthalten, um sie als Waren den Bedürfnisse einer elitären Gruppe von Tauschhändlern nutzbar zu machen, deren Egos auf eine Weise sozialisiert wurden, die den Hunger nach Mehr unersättlich werden ließ.
Auch wenn wir den Tauschhändlern (den Unternehmern) für das Schaffen von Arbeitsplätzen dankbar sein mögen, sollten wir uns bewusstmachen, dass das Schaffen von Arbeitsplätzen für diese nur ein Weg ist, das, was Karl Marx Mehrwert genannt hat, abzuschöpfen. Wir können den Mehrwert dabei als Geschenk der Arbeitenden betrachten, nämlich als das ihrer Arbeitszeit. Die Arbeitenden selbst wiederum müssen, um überleben zu können, zahlreiche Geschenke anderer in Anspruch nehmen. Im Rahmen der uns beherrschenden Hierarchie werden Geschenke von unten nach oben verteilt, von Arm zu Reich, von den Schenkenden zu den Tauschenden. Gleichzeitig gelingt es dem System, die Menschen glauben zu machen, die Verteilung würde umgekehrt geschehen.
Tauschverhältnisse wirken seit langer Zeit so natürlich, dass es kaum jemandem mehr in den Sinn kommt, sie zu hinterfragen. In Wahrheit jedoch sind sie künstlich, abgeleitet von einem Missbrauch der Kommunikation. Wenn wir Tauschverhältnisse nicht mehr als natürliche Eckpfeiler der Wirklichkeit ansehen, dann können wir aufhören, unseren Selbstwert über unsere Rolle in denselben zu definieren. Viele Frauen haben gedacht, dass das Ziel unserer Befreiung darin liegen muss, mehr in die gesellschaftlichen Verhältnisse integriert zu werden. In den USA sind diese Verhältnisse jene des kapitalistischen Patriarchats. Frauen fühlen sich in diesen aber oft unbehaglich und oft genug verurteilt uns genau das zur Erfolglosigkeit.
Die Lösung kann nicht darin liegen, uns dem Patriarchat mehr und mehr anzupassen – es sind im Gegenteil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die sich mehr und mehr unseren Werten anzupassen haben. Das heißt zunächst, dass wir unsere Werte als lebensfähiger als jene des Patriarchats geltend machen und behaupten müssen. Wir müssen das Patriarchat verstehen und grundlegend kritisieren lernen, um zu realisieren, dass wir die Alternative bereits in unseren Händen halten.
Anstatt zu versuchen, uns den Respekt jener zu erheischen, denen im Rahmen des Systems Erfolg beschieden ist, müssen wir uns selbstbewusst außerhalb des Systems positionieren. Selbst der Respekt hat damit zu tun, „noch einmal nachzusehen“ (lat. spectare = sehen), abzuschätzen und zu vergleichen – alles Kriterien, die vom Tauschprinzip herrühren und nur dort von Wichtigkeit sind, wo nicht die Fürsorge als leitender Wert gilt.
Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den Wert des Schenkprinzips richten und die Mängel des Tauschprinzips offenbaren, erscheint vieles in neuem Licht. Der patriarchale Kapitalismus, der die Quelle unseres Glücks zu sein scheint, wird als parasitäres System entblößt, in dem die oberen Schichten von den Geschenken ihrer unterworfenen FürsorgerInnen erhalten werden. Der Profit ist ein Geschenk, das den Tauschhändlern von anderen am Markt Teilhabenden, und von denen, die diese versorgen, gegeben wird. Der Mangel wohnt dem Tauschsystem notwendig inne und ist nicht Folge menschlichen Unvermögens oder ökologischer Krise.
In diesem Zusammenhang sollten auch die psychologischen Implikationen bestimmter von Philosophen und Linguisten verwendeter Begriffe in Betracht gezogen werden. Vor allem jene, die mit dem Schenken und mit Bedürfnissen zu tun haben, wie z.B. genetische „Ausstattung“, oder solche, die zu ökonomischen Schlagwörtern geworden sind, wie haves und have-nots. Diese Begriffe verraten die verborgenen psychosozialen Absichten des Patriarchats.
Anm. d. Übers.: „Co-Creation“ ist auch Bestandteil deutscher New-Age-Terminologie und bleibt in ihr in der Regel unübersetzt. Im Englischen ist der Begriff vage. In einem christlichen Kontext bezieht er sich auf die Schöpferrolle, die der Mensch mit Gott zusammen, als dessen „Ebenbild“, einnimmt. In einem New-Age-Kontext wird Gott durch die Natur, den Kosmos oder die Schöpfung selbst ersetzt und eine dynamische Epistemologie postuliert, die sich im Austausch von Mensch und Natur/Kosmos/Schöpfung ereignet.
Ich spreche nur vom euro-amerikanischen Raum. Ich kann nicht beanspruchen, all die Formen, in denen sich das Patriarchat in verschiedenen Kulturen ausgedrückt hat und weiterhin ausdrückt, hier mit einzuschließen. Vielmehr verwende ich die euro-amerikanische Form des Patriarchats als Beispiel, mit dem andere Patriarchatsformen verglichen werden können, um Gemeinsamkeiten wie Unterschiede auszumachen und zu bestimmen. Siehe dazu weiters Kapitel 5.
Anm. d. Übers.: Dieser Ausdruck ist innerhalb der deutschsprachigen AA-Gruppen nicht besonders geläufig. Im Englischen wurde er populär durch das 1984 erschienene Kinderbuch An Elephant in the Living Room (Jill M. Hastings und Marion H. Typpo), das sich als Unterstützungsmaterialie für Kinder versteht, die sich in ihren Familien mit Alkohol- oder anderen Suchtproblemen konfrontiert sehen. Der Ausdruck dient im Englischen mittlerweile als geläufige Beschreibung für ein kollektiv ignoriertes Problem, egal wo oder in welcher Form es auftritt.
Es wäre interessant, Anorexie nicht nur als Verweigerung von Nahrung zu betrachten, sondern auch als Verweigerung des Werts, der den Beschenkten im Akt der Fürsorge zugetragen wird. Vielleicht beruht Anorexie auf einer zu extremen oder zu frühen Verinnerlichung des Tauschprinzips.
Die weltweiten Rüstungskosten belaufen sich auf neunzehn Milliarden US-Dollar pro Woche. Mit diesem Geld könnten alle Hungernden der Welt ernährt werden. Da Rüstungsausgaben offensichtlich nichts zur Lebenserhaltung beitragen – das genaue Gegenteil ist der Fall –, unterminieren sie jede Ökonomie, die auf Fürsorge beruht.
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